Es gibt diese stillen Momente, in denen man innehält, irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart und ein warmes Gefühl durch einen hindurchzieht. Es ist kein nostalgisches Verklären, kein „Früher war alles besser“, sondern eher ein leiser Dank. Eine stille Freude darüber, genau in der Zeit aufgewachsen zu sein, in der ich es bin: den 80ern und 90ern. Zwei Jahrzehnte, in denen Technik noch etwas Magisches hatte, Zeit noch ausgedehnter wirkte und Kindheit ein Abenteuer war. Offline, voller Begegnungen und mit einem echten Gefühl für das Leben da draußen.
Kein Handy und dennoch verbunden
Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an leere Hosentaschen. Kein Handy. Kein ständiges Vibrieren, keine Benachrichtigungen, keine GPS-Ortung. Und trotzdem wusste man, wo die anderen waren: bei gutem Wetter auf dem Bolzplatz, bei Regen unter der Brücke oder irgendwo im Wald auf „Expedition“. Man klingelte einfach an der Tür, analog, mit dem Finger auf der Türklingel und fragte, ob der Freund Zeit hat.
Diese Form von Verabredung, diese kleinen Rituale des Miteinanders, formten echte Verbindungen. Wir verabredeten uns nicht in Chats, sondern in der Realität. Mit schmutzigen Händen, dreckigen Knien und einem Lächeln, das man nicht als Emoji verschicken musste.
Musik hatte Gewicht, im doppelten Sinn
Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal, als ich eine Schallplatte aufgelegt und Traumzauberbaum oder Mimmelitt das Stadtkaninchen angehört habe. Dieses vorsichtige Aufsetzen der Nadel, das leise Knistern, bevor die Geschichte begann, als würde sie sich erst den Weg durch die Zeit bahnen. Danach kamen die Kassetten. Selbst aufgenommen, mit kleinen Kritzeleien auf dem Cover, das man liebevoll gestaltet hatte. Meine erste Playlist waren Aufnahmen aus dem Radio. Die Kassette hütete ich wie einen großen Schatz. Ich spulte zurück, hörte nochmal rein und spulte wieder vor. Ein Lied zu hören, war ein Prozess, ein bewusstes Tun.
CDs brachten dann den Glanz der Zukunft. Plötzlich konnte man direkt zum Lieblingssong springen. Und irgendwann kamen die USB-Sticks. Klein, leicht, praktisch. Und doch fehlt mir oft dieses bewusste Hören, dieses Hinfiebern auf den Moment, wenn die Nadel auf die Platte trifft.
Früher hatte Musik nicht nur emotionales, sondern auch physisches Gewicht. Du trugst sie mit Dir, im Rucksack, im Walkman, im Herzen.
Wertschätzung als Grundgefühl
Vielleicht liegt es an der Geschwindigkeit, mit der sich heute alles verändert. Vielleicht auch an der Flut an Möglichkeiten. Früher war vieles kostbarer. Ein neues Spielzeug wurde gefeiert, nicht verglichen. Ein Foto war ein Ereignis, nicht nur ein weiterer Eintrag im digitalen Strom. Man überlegte sich gut, welchen Moment man festhalten wollte. Und dann wartete man gespannt auf die Entwicklung, mit klopfendem Herzen, ob das Bild wohl etwas geworden ist.
Ich denke oft daran, wie wertvoll es war, sich auf die Dinge zu freuen. Es war kein Konsumrausch, sondern ein echtes Staunen. Ein Geschenk wurde nicht sofort ersetzt, sondern repariert, gepflegt und weitergegeben. Diese Haltung ist tief in mir geblieben. Dafür bin ich dankbar.
Mein Fahrrad, mein erstes Stück Freiheit
Mein Fahrrad war mein Raumschiff, mein Pferd und mein Fluchtwagen. Es stand immer bereit. Mit quietschender Kette und manchmal plattem Reifen. Aber es trug mich überall hin. In die Wälder, an den Fluss, zu Freunden oder ins nächste Dorf. Es war mehr als ein Fortbewegungsmittel, es war ein Symbol. Für Freiheit, für Abenteuer und für Selbstständigkeit.
Ich erinnere mich an Nachmittage, an denen ich einfach losgefahren bin, ohne Ziel, ohne Uhr. Nur ich, der Fahrtwind und das leise Knacken der Reifen auf Schotterwegen. Ich kann den Geruch noch riechen, der von frisch gemähtem Gras kam. Ich sehe die glitzernden Pfützen auf dem Asphalt nach einem Sommerregen. Ich höre das Rascheln, wenn ich durch das hohe Gras an den Feldrändern fuhr. Und vor allem: Ich spüre dieses Gefühl, lebendig zu sein.
Tiere beobachten, meine erste Form der Achtsamkeit
Schon als kleiner Junge habe ich Tiere geliebt. Nicht nur die Haustiere, die mich umgaben, sondern vor allem die in der Natur. Eichhörnchen, die sich von Ast zu Ast schwangen. Libellen, die in der Sonne tanzten. Rehe, die am frühen Morgen scheu durch den Nebel traten. Kaulquappen in einer Pfütze. Eine Kreuzspinne beim Bauen ihres Netzes. Ich konnte stundenlang still dasitzen, nur beobachten. Jedes Rascheln, jedes Zwitschern wurde zu einem kleinen Wunder.
Ich glaube, das war meine erste Begegnung mit Achtsamkeit, lange bevor ich wusste, was dieses Wort überhaupt bedeutet. Es war kein bewusster Akt, sondern einfach ein natürlicher Zustand. Ich war ganz da. Ganz bei dem, was sich vor meinen Augen entfaltete. Und das hat mich geprägt. Bis heute finde ich Ruhe in der Natur, finde Verbindung in der Stille zwischen den Dingen.
Der Rhythmus einer anderen Zeit
Wenn ich heute Kinder sehe, die an Tablets wischen, während um sie herum die Welt passiert, werde ich manchmal traurig. Nicht weil ich glaube, dass alles schlechter geworden ist, sondern weil ich spüre, wie viel mir die Langsamkeit meiner Kindheit gegeben hat.
Wir hatten Zeit. Lange Sommerferien ohne Plan. Tage, die sich dehnten wie Kaugummi. Stunden im Baumhaus, in denen wir Geschichten erfanden, ohne zu wissen, dass wir dabei gerade unsere Kreativität entwickelten. Es war nicht alles perfekt, aber es war echt.
Technik als Abenteuer, nicht als Alltagslärm
Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als wir unseren ersten Computer bekamen. Mit Diskettenlaufwerk, klobigem Monitor und endlosen Ladezeiten. Aber es war ein Wunder. Jedes Update, jedes neue Kabel, jede neue Software, es fühlte sich an wie Zukunft.
Heute scheint Technik selbstverständlich. Sie ist überall, sie läuft mit, sie raubt Aufmerksamkeit. Früher war sie selten, etwas Besonderes. Und deshalb kostbar.
Ich bin dankbar, dass ich Technik als etwas erlebt habe, dass man verstehen wollte und repariert hat, statt sofort zu ersetzen. Diese Haltung hat meinen Blick geschärft, auf das, was ich wirklich brauche, und das, was mich nur ablenkt.
Gedanken, die Zeit haben dürfen
Auch Schreiben war früher etwas anderes. Ich hatte ein Tagebuch. Keine App. Kein Passwort. Nur ein Buch mit leeren Seiten und einem Stift. Ich schrieb nicht für Likes, nicht für Leser. Ich schrieb für mich. Es war intim, ehrlich, manchmal chaotisch. Aber es half mir, mich selbst besser zu verstehen.
Bis heute liebe ich es, mit der Hand zu schreiben. Gedanken fließen anders. Sie haben Raum, dürfen sich Zeit nehmen. Ich glaube, viele Antworten kommen erst dann, wenn man langsamer wird, wenn man Stille zulässt, wenn man nicht gleich „Enter“ drückt.
Fotografie als Erlebnis
Auch meine Liebe zur Fotografie hat in dieser Zeit begonnen. Damals war es nicht selbstverständlich, ständig ein Foto zu machen. Man hatte einen Film mit 24 oder 36 Bildern. Das hieß auswählen, warten und hoffen. Genau deshalb waren Fotos Erinnerungen und nicht Dateien.
Heute fotografiere ich digital, aber ich versuche, mir diesen alten Blick zu bewahren. Den Blick für das Echte. Für das, was zwischen den Momenten liegt. Für das Gefühl, das ein Bild transportieren kann, nicht nur das Motiv.
Warum ich dankbar bin
Ich bin dankbar, ein Kind der 80er und 90er zu sein, weil ich aus vollem Herzen gelebt habe. Weil ich gelernt habe, zuzuhören. Nicht nur Musik, sondern dem Leben. Weil ich weiß, wie es sich anfühlt, draußen zu sein, ohne zu wissen, was gerade „im Trend“ ist. Weil ich den Wandel miterlebt habe. Von der Schallplatte, über Kassette, USB-Stick bis zu Spotify, vom Wald zum WLAN und mir dabei trotzdem mein Gespür für Tiefe und Echtheit bewahren konnte.
Ich wünsche mir, dass wir diese Werte wieder stärker leben. Dass wir unseren Kindern zeigen, wie schön es ist, sich zu verlieren, nicht im Netz, sondern in der wunderbaren Natur. Dass wir nicht vergessen, wie viel Magie im Einfachen liegt. In einem Lied, das knistert. In einem Moment, den man nicht teilt, sondern ganz für sich behält.
Vielleicht…
…liegt die Zukunft genau da, wo wir herkommen. Vielleicht ist Rückbesinnung der Weg nach vorn. Und vielleicht ist es an uns, diese Geschichten weiterzutragen. Nicht als Mahnung, sondern als Einladung. An das Leben. An die Langsamkeit. An das Staunen.
Denn auch wenn ich heute ein Smartphone in der Tasche habe und jeden Song mit einem Klick hören kann: Ich werde nie vergessen, wie es war, als ein Fahrrad und eine Kassette alles für mich bedeuteten. Und genau dafür bin ich unendlich dankbar.